Kein Tempolimit auf Autobahnen
Auf deutschen Autobahnen herrscht aktuell kein allgemeines Tempolimit - doch die Diskussion um eine solche Beschränkung ist weiterhin intensiv. Wir werfen einen Blick auf aktuelle Studien und Prognosen zu diesem Thema.
Wird ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen eingeführt? Die Automobilindustrie bereitet sich auf potenzielle Veränderungen vor.
Foto: panthermedia.net/Astrid08
Seit Jahrzehnten entzünden Tempolimits auf Autobahnen Debatten in Deutschland. Befürworter sehen darin einen unverzichtbaren Schritt für Klimaschutz und Verkehrssicherheit, Kritiker befürchten Einschränkungen der individuellen Mobilität und sehen wenig Nutzen. Wie beurteilen wissenschaftliche Erkenntnisse und Faktenlage diese kontroverse Thematik? Welche Folgen hätte ein Tempolimit wirklich?
Deutschland als Ausnahmefall
Deutschland ist in Europa das einzige Land ohne allgemeines Tempolimit auf Autobahnen. Weltweit teilen nur wenige Staaten diese Ausnahmepraxis - oft Länder mit deutlich anderen Verkehrssystemen, wie beispielsweise Somalia oder Afghanistan. Die freie Fahrt auf deutschen Autobahnen ist tief in der automobilen Kultur verwurzelt und wird mit technischer Perfektion, Innovationsgeist und der individuellen Mobilität in Verbindung gebracht.
Die öffentliche Meinung hat sich in den vergangenen Jahren allerdings deutlich gewandelt. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit nun eine Begrenzung der Geschwindigkeit auf 130 km/h befürwortet. Auch innerhalb des ADAC wächst der Anteil der Befürworter.
Sicherheitsaspekte: Schützt ein Tempolimit?
Häufig argumentieren Gegner, Autobahnen seien ohnehin sicherer als Landstraßen. Die Unfallzahlen sind dort zwar niedriger. Ein wichtiger Faktor ist jedoch der fehlende Gegenverkehr auf Autobahnen, wodurch viele Gefahren reduziert werden. Allerdings steigen die Unfallfolgen bei höheren Geschwindigkeiten exponentiell. Bremsweg und Reaktionszeit verlängern sich mit der Geschwindigkeit deutlich.
Zusätzlich wirkt sich die unterschiedliche Fahrgeschwindigkeit von Verkehrsteilnehmern aus. Fahrzeuge mit grossen Geschwindigkeitsunterschieden schaffen oft gefährliche Situationen. Studien belegen, dass durch eine Vereinheitlichung der Geschwindigkeit das Unfallrisiko sinkt, weil die Notwendigkeit für abrupte Bremsungen oder Ausweichmanöver geringer wird.
Siegfried Brockmann, ehemaliger Leiter der Unfallforschung der Versicherer, plädierte 2024 für ein Tempolimit zwischen 140 und 150 km/h. So ließe sich ein homogenerer Verkehrsfluss erreichen - der wichtigste Faktor für die Unfallvermeidung.
Klimaschutz: Ein Tempolimit - ein effektiver Beitrag?
Ein zentrales Argument für ein Tempolimit ist die Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Deutschland hat sich im Klimaschutzgesetz verpflichtet, die Emissionen im Verkehr zu verringern. Derzeit entstehen im Straßenverkehr jährlich ca. 144 Millionen Tonnen CO₂ - ungefähr 20% aller Emissionen.
Das Umweltbundesamt (UBA) veröffentlichte Ende 2024 eine Studie über die Wirkung von Tempolimits. Nach ihren Berechnungen könnten bei einem allgemeinen Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen jährlich rund 6,2 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden. Ein zusätzliches Tempolimit von 80 km/h auf Landstraßen würde die Einsparungen sogar auf 7,4 Millionen Tonnen erhöhen. Gleichzeitig würde der Ausstoß gesundheitsschädlicher Schadstoffe wie Stickoxide deutlich sinken.
Michael Müller-Görnert, verkehrspolitischer Sprecher des VCD, betont die Bedeutung von Tempolimits: „Keine andere Maßnahme bringt so viel für den Klimaschutz wie Tempolimits auf Autobahnen und Landstraßen'. Zusätzlich könnten Leben gerettet werden - und das nahezu ohne zusätzliche Kosten. Das UBA schätzt, dass die Klimaschutzwirkung des vorgeschlagenen Tempolimits einer Reduzierung der CO₂-Emissionen im Straßenverkehr um 4,7 Prozent entsprechen würde - ein wichtiger Schritt zur Verkehrswende.
Die Kraftstoffpreise werden in den kommenden Jahren voraussichtlich erheblich steigen, insbesondere angesichts der freigebildeten CO₂-Preise ab 2027. Daher werden viele Autofahrer es sich nicht mehr leisten oder wollen, schnell zu fahren. Die Berechnungen erfordern daher Vorsicht, da ein konstantes Fahrverhalten vorausgesetzt wird.
Weniger Lärm, mehr Ruhe - der Lärmschutzfaktor
Ein oft unterschätzter Effekt eines Tempolimits ist der Lärmschutz. Höhere Geschwindigkeiten verursachen mehr Lärm - nicht nur durch den Motor, sondern auch durch Luftwiderstand und Reifenabrieb. Insbesondere Autobahnen in der Nähe von Wohngebieten sind betroffen.
Viele Gemeinden entlang viel befahrener Strecken müssen mit Überschreitungen der Grenzwerte für Umgebungslärm kämpfen. Lärmschutzwände und Tempo-30-Zonen in Wohngebieten sind häufige Maßnahmen. Ein allgemeines Tempolimit könnte dieser Entwicklung vorbeugen - ohne aufwendige bauliche Maßnahmen.
Auch die geringeren Geschwindigkeitsdifferenzen führen zu weniger abrupten Beschleunigungen und Bremsungen, was die Geräuschreduzierung unterstützt.
Technische Einwände: Wann greift ein Limit tatsächlich?
Die häufigen Zusatzangaben zu Tempolimits, wie „bei Nässe' oder „werktags 7-17 Uhr', führen oft zu Unsicherheiten. Wann ist es beispielsweise „nass genug'?
Ein Tempolimit „bei Nässe' gilt nur bei einer zusammenhängenden Wasserschicht auf der Fahrbahn. Die Fahrbahnbewässerung hinter den Fahrzeugen bietet einen guten Anhaltspunkt.
Bei zeitlich begrenzten Tempolimits, zum Beispiel an Schulen, ist die exakte Formulierung auf den Schildern entscheidend. Beispielsweise gilt ein Tempolimit „Mo-Fr' auch an Feiertagen, die auf einen Wochentag fallen. Ein Hinweis auf „werktags' hingegen schließt Sonn- und Feiertage aus.
Solche Detailfragen sind zwar bei der Diskussion über ein generelles Tempolimit zweitrangig, zeigen aber die Komplexität von Tempolimits im Alltag. Ein einheitliches, flächendeckendes Limit könnte in diesem Punkt Klarheit schaffen.
Tempolimit und individuelle Freiheit - ein Widerspruch?
Die Diskussion über die „persönliche Freiheit' ist emotional geprägt. Das freie Fahren auf der Autobahn steht für viele Menschen sinnbildlich für Selbstbestimmung. Ein Tempolimit schränkt diese Freiheit ein - wie viele andere Regeln im Straßenverkehr auch.
Aber wo endet die individuelle Freiheit, wenn andere gefährdet oder durch die Geschwindigkeit anderer gestresst werden? Besonders bei grossen Geschwindigkeitsdifferenzen fühlen sich Verkehrsteilnehmer schnell unter Druck gesetzt. Fahrten mit 200 km/h hinter einem Konvoi von 120 km/h-Fahrzeugen sind stressgeladen und riskant.
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) sieht ein Rechtsfahrgebot vor. Das bedeutet aber nicht, dass jedes langsamere Fahrzeug sofort die Spur wechseln muss, wenn ein schnelleres Fahrzeug sich nähert. Konflikte auf vollen Straßen entstehen oft aus solchen Situationen.
Industrie und Image: Was bedeutet ein Limit für die Autohersteller?
Kritiker argumentieren, ein Tempolimit schadet dem Ruf der deutschen Automobilindustrie. Steht diese Behauptung im Einklang mit der Wirklichkeit?
Die Tatsache, dass leistungsstarke Fahrzeuge deutscher Marken in Ländern mit strengeren Tempolimits weiterhin gut verkauft werden, etwa in den USA mit Geschwindigkeitslimits zwischen 112 bis 120 km/h, widerlegt diesen Einwand.
Wie der CEO des Instituts für Automobilwirtschaft, Stefan Reindl, betont, kaufen viele Menschen schnelle Autos, ohne deren volle Leistungsfähigkeit auszuschöpfen. Der Kaufwunsch liegt häufig in der Faszination für Technologie, im Prestige oder Fahrkomfort - nicht nur in der Höchstgeschwindigkeit.
Für den „Adrenalinkick' auf der Autobahn gibt es Alternativen wie Rennstrecken oder spezielle Track-Days. Das Argument des Imageschadens scheint daher relativ schwach.
Wie es andere Länder regeln
Ein Blick auf andere Länder zeigt, dass Deutschland eine Ausnahme darstellt. In allen Nachbarländern bestehen allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen - meist 120 oder 130 km/h auf Autobahnen, 80 bis 100 km/h auf Landstraßen und 50 km/h innerorts.
Land | Innerorts | Landstraße | Autobahn |
Frankreich | 50 | 80 | 130 |
Niederlande | 50 | 80 | 100/130 |
Österreich | 50 | 100 | 130 |
Schweiz | 50 | 80 | 120 |
Polen | 50/60 | 90 | 140 |
Aktuelle Studien und Untersuchungen zum Tempolimit
Zusammenfassend betrachten wir aktuelle Studien und Untersuchungen zum Tempolimit, welche die Aspekte Klimaschutz, Wirtschaftlichkeit, Verkehrssicherheit und internationale Vergleiche beleuchten.
Klimaschutzstudien
- BASt-Studie (im Auftrag des Bundes-Ministeriums, Sept 2024):
- 1,3 bis 2 Mio. Tonnen CO₂ Einsparung pro Jahr bei 130 km/h.
- Bei einer verpflichtenden technischen Begrenzung könnte das Einsparpotenzial auf bis zu 4,2 Mio. Tonnen steigen.
- UBA-Studie (2023):
- Ein Tempolimit von 120 km/h spart ca. 6,7 Mio. Tonnen CO₂, ein zusätzliches Limit auf Landstraßen (80 km/h) erhöht die Einsparung auf ca. 8 Mio. Tonnen.
- Deutsche Umwelthilfe:
- In Kombination mit Tempo 100, 80 und 30 wird ein Einsparpotenzial von über 11 Mio. Tonnen CO₂ - 36 % weniger Emissionen - erwartet.
- DW-Analyse (Feb 2024):
- UBA-Schätzungen bei Tempo 120: 4,5 Mio. Tonnen CO₂-Einsparung (ca. 2,9 % des Verkehrssektors); mit zusätzlicher Verkehrsminderung sogar bis zu 6,7 Mio. Tonnen.
Ökonomische Analysen
- Eine umfangreiche Kosten-Nutzen-Analyse aus 2023 ergab einen Wohlfahrtsgewinn von mindestens 950 Millionen Euro jährlich. Dies resultiert aus geringeren Unfallkosten, reduziertem Kraftstoffverbrauch, kürzeren Lieferzeiten und gesunkenen Infrastrukturkosten.
- Eine regional fokussierte Untersuchung für Brandenburg zeigte, dass die Einsparung an Unfallkosten (22,5 Mio. €) bei einem 130-km/h-Limit die zusätzlichen Zeitkosten (17,2 Mio. €) überkompensiert.
- Laut einem EU-Bericht (ECA, 2023): Ein Rückgang der durchschnittlichen Geschwindigkeit um nur 1 km/h auf allen Straßen würde über 2000 Menschenleben pro Jahr retten.
- Eine Studie aus Passau/Berlin (2021) weist darauf hin, dass 14,9 Millionen Menschen in Deutschland in der Nähe von unlimitierten Autobahnabschnitten wohnen. Schnellere Fahrzeuge erhöhen dort die PM-Emissionen, was negative gesundheitliche Auswirkungen hat.
Internationale Vergleiche & Forschung
- Review zu 30‑km/h‑Zonen in EU‑Städten (2024):
In Städten wie Brüssel, Paris und Zürich führten 30 km/h-Zonen zu einer Reduktion von Unfällen um ca. 23 %, schweren Verletzungen um 37 % und Verletzungen um 38 %. Diese Zonen brachten zudem Umwelt- und Gesundheitsvorteile (‑18 % Emissionen, ‑7 % Kraftstoffverbrauch, ‑2,5 dB Lärm). - Global Roads Safety Facility (Guide for Safe Speeds, 2024):
Evaluiert evidenzbasierte Strategien für sichere Geschwindigkeiten auf Autobahnen, basierend auf dem Safe-System-Konzept.
Technologie & Fahrerüberwachung
- Forschungsarbeiten zu Geschwindigkeitswarnungen (Dänemark 2024) zeigen, dass akustische Warnungen das Fahrerverhalten beeinflussen - dies jedoch je nach Fahrererfahrung unterschiedlich.
- Modellstudien (2023) zu multi-objektiver Verkehrs- und Emissionsoptimierung belegen: Optimale Geschwindigkeitsbegrenzungen können sowohl Umwelt- als auch Verkehrsziele gleichzeitig erreichen.
Ein Beitrag von:
Dominik Hochwarth
Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, anschließend folgten ein Volontariat und über 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 veröffentlicht er Beiträge auf ingenieur.de.