Masernimpfung in der DDR
„Mein Ziel war stets der Schutz'
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Von: Steven Geyer
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Wolfgang Kiehl, leitender Impfexperte der DDR, erläutert im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau die Berliner Masern-Epidemie von 1970.
Als Chef-Impfarzt Ost-Berlins setzte Wolfgang Kiehl die Impfpflicht gegen die letzte große Masern-Epidemie 1970 durch. Mit Erfolg: Die Masern wurden nicht nur eingedämmt, sondern danach nahezu ausgerottet - bis zum Mauerfall.
Herr Kiehl, Berlin erlebte 1970 einen vergleichbar großen Masernausbruch wie aktuell. Die DDR verfügte damals über eine Masernimpfpflicht. Wie haben Sie diese als leitender Impfexperte Ost-Berlins umgesetzt?
Nach der Anordnung planten wir eine Impfkampagne von Juni bis November. Dies war unerlässlich: Im Januar 1970 wurden 476 Masernfälle gemeldet, im Februar 526 und im März bereits 882! Die vorherigen freiwilligen Impfungen hatten somit nicht die notwendige Impfquote von 90 bis 95 Prozent erreicht - wie dies heute offenbar wieder der Fall ist. 1970 stand ein neuer Impfstoff zur Verfügung, den wir bei allen nachfolgenden Kindern einsetzten: bei den Kontrolluntersuchungen und in Kindertagesstätten, wo es viele ungeimpfte Kinder gab.
Wie wurden Verstöße gegen die staatliche Impfpflicht geahndet?
Überhaupt nicht. Es gab keinen Versuch, „Verweigerer' zu identifizieren. Deshalb irritiert mich der heutige Diskurs über eine Impfpflicht mit Sätzen wie „Wir wollen keine Impf-Stasi'. Nein, wir sahen die Impfpflicht als staatliche Pflicht, die Kinder bestmöglich zu schützen, und zugleich als Verantwortung der Eltern, diese Möglichkeiten zu nutzen. Es war eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen, und wurde bald selbstverständlich. Dies beruhte nicht auf Zwang, sondern auf einem großen Vertrauen in die Ärzte und das Gesundheitswesen. Nicht das Gesetz, sondern der Arzt hatte die Autorität, darauf zu achten, dass jedes Kind geimpft wurde.
Es gelang Ihnen tatsächlich, die Masernwelle zu stoppen und die Krankheit später so einzudämmen, dass sie in der DDR kurz vor der Ausrottung stand. Hat der Staat Ihnen ab 1970 besondere personelle oder finanzielle Mittel dafür zur Verfügung gestellt?
Öffentliche Gesundheitsvorsorge und Impfprogramme waren in der DDR besonders gefördert und relativ gut ausgestattet. Aber sicherlich waren die Anstrengungen nicht wesentlich größer als heute, wo ebenfalls das Ziel und die Möglichkeit bestehen, jedes Kind zu impfen.
Wollte die DDR die Masern auf ihrem Gebiet vollständig ausrotten?
Erst ab 1983, als dieses Ziel weltweit realistisch erschien. Von 1983 bis 1986 wurde das Impfprogramm deshalb erweitert und auch ältere Menschen wurden nachgeimpft - so erfolgreich, dass die Masern 1990 womöglich ausgerottet worden wären. Durch den Wandel gab es dann jedoch zunächst andere Prioritäten im Gesundheitssystem, und in den 90er Jahren glich sich das Impfverhalten dem lockereren im Westen an.
Wie wichtig waren Aufklärung und Motivation, wenn die Impfpflicht ohnehin bestand?
Sehr wichtig! Unsere Impfkampagne wurde durch eine massive Informationskampagne unterstützt: 27.000 Informationsblätter, zahlreiche Pressemitteilungen und Werbeeinschaltungen im Fernsehen und Kino, Aufkleber in der U-Bahn … Um Eltern kleiner Kinder direkt zu erreichen, habe ich dem Programmheft des Kindertheaters „Clown Ferdinand' - wo alle Eltern hingegangen sind - eine eigene Botschaft beilegen lassen, die der Autor selbst verfasst hatte: „Ohne Impfung besteht die Infektionsgefahr!'
Die DDR nutzte Ihre Impferfolge auch für propagandistische Zwecke …
Das bemerkten wir im Alltag nicht. Natürlich nutzte die DDR Erfolge, um die Überlegenheit des Sozialismus zu betonen. Für mich stand jedoch immer der Schutz der Bevölkerung im Vordergrund. Dazu gehören nun mal gute Impfraten: Sie steigern den Herdenimmunität.
Wie ging man mit dem Risiko von Impfschäden um, das Massenimpfungen mit sich bringen?
In der Medizin gibt es kein Null-Risiko, das gilt aber bei jedem chirurgischen Eingriff. Bei Masern wussten wir, dass die Erkrankung viel mehr Schäden und Komplikationen mit sich bringt als die Impfung. Alle Schäden wurden zentral erfasst, eine Kommission analysierte jeden Fall, und der Staat entschädigte Betroffene wie heute auch. Sicher, den Einzelnen wurde damals die Risikoabwägung abgenommen - aber das war allgemein üblich. Die heutige Transparenz hat sich auch im Westen erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Das Ausmaß der Informationsmöglichkeiten für die Bürger war damals sicherlich nicht optimal.
Die größere Transparenz erzeugt offenbar auch mehr Bedenken, sodass es heute mehr Impfgegner gibt. In der DDR gab es bis zu 17 Pflichtimpfungen für Kinder und Jugendliche. Gab es dagegen Widerstand?
Nichts, das uns aufgefallen ist. Heute ist die Liste empfohlener Impfungen nicht viel kürzer - und sowohl meine damalige Analyse wie auch die jüngsten Einschätzungen der Bundeszentrale gehen nur von einem Prozent aktiver Impfgegner aus. Alle anderen dürften durch Gespräche mit einem Arzt, dem sie voll vertrauen, zu überzeugen sein.
Welche Schlussfolgerung ziehen Sie aus Ihrem Erfolg …
Nicht unbedingt, dass man Druck ausübt. Vielmehr, dass man Ärzten die Möglichkeit geben muss, echte Überzeugungsarbeit zu leisten. Leider fehlt diese Möglichkeit heute oft.
Interview: Steven Geyer